Die aktuelle Rechtsprechung zur Selbstbelastungsfreiheit von juristischen Personen

Die aktuelle Rechtsprechung zur Selbstbelastungsfreiheit von juristischen Personen

28. Oktober 2021

I. Einleitung

Einer der elementarsten strafprozessualen Grundsätze ist das Recht, sich nicht selber zu belasten (Nemo-Tenetur). Beschuldigte Personen haben ein Aussageverweigerungsrecht. Aussagen, die in Unkenntnis der Selbstbelastungsfreiheit gemacht wurden, können nicht zu Ungunsten der Beschuldigten verwendet werden. Beschuldigte Personen sind weder verpflichtet, Dokumente herauszugeben noch bei der Sachverhaltsermittlung in irgendeiner Weise mitzuwirken. In wieweit die Selbstbelastungsfreiheit juristische Personen einschliesst, ist hingegen nicht abschliessend geklärt. Von zunehmender Bedeutung sind ausserdem Rechtsbereiche, in denen verwaltungsrechtliche Bestimmungen sanktionsrechtlichen Charakter annehmen. Im Gegensatz zum Strafverfahren besteht im verwaltungsrechtlichen Verfahren in der Regel eine Mitwirkungspflicht.

II. Rechtsprechung

Das Bundesgericht geht davon aus, dass auch bei juristischen Personen der nemo-tenetur-Grundsatz zur Anwendung kommt, dieser aber eingeschränkt werden kann. Konkret vertritt das Bundesgericht die Auffassung, dass Unterlagen, die aufgrund von gesetzlichen Dokumentationspflichten erstellt wurden, nicht der Selbstbelastungsfreiheit unterliegen (BGE 142 IV 207; BGE 140 II 384). Die beschuldigte juristische Person ist demnach verpflichtet, Dokumente einzureichen, die sie von Gesetzes wegen zu erstellen verpflichtet gewesen ist. Begründet wird dies damit, dass sich der nemo tenetur-Grundsatz aus der Menschenwürde ergeben würde. Diese Komponente fehle bei juristischen Personen (BGE 140 II 384, E. 3.3.4).

Ein weiteres Beispiel für vorgenannte Problematik bildet das Kartellrecht. Art. 49a Abs.1 KG sieht vor, dass Unternehmen bei unzulässigen Wettbewerbsbeschränkungen mit einer Sanktion belastet werden können. Die Wettbewerbskommission hat die Befugnis, Dritte als Zeugen einzuvernehmen und Betroffene zur Beweisaussage zu verpflichten. In diesen Fällen stellt sich die berechtigte Frage, inwiefern strafprozessuale Grundsätze, insbesondere der Nemo-Tenetur Grundsatz, zur Anwendung gelangen.

Die Thematik wurde durch einen aktuellen Bundesgerichtsentscheid (BGer 2C_383/2020 vom 08.03.2021) erneut ins Licht gerückt: Das Bundesgericht hatte zu beurteilen, ob ehemalige Organe als Zeugen umfassend zu Aussagen gegen das Unternehmen verpflichtet werden können. Das Bundesgericht gelangte zur Ansicht, dass die Unterscheidung zwischen den «von der Untersuchung direkt Betroffenen» und «Dritten» (Art. 42 Abs. 1 KG) für die Beurteilung dieser Frage von entscheidender Bedeutung sei. So wurde grundsätzlich festgehalten, dass für «direkt von der Untersuchung Betroffene» Art. 6 Ziff. 1 EMRK zur Anwendung komme. Diese können die Aussage verweigern, während Dritte als Zeugen der Wahrheitspflicht unterliegen (BGer 2C_383/2020 vom 08.03.2021, E. 4.3).

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass einzig die Verfahrensparteien unter den Begriff der «von der Untersuchung Betroffene» fallen würden. Da juristische Personen durch ihre aktuellen formellen und faktischen Organe handeln würden, seien diese als Parteien zu behandeln. Anderen Angestellten oder ehemaligen Organen fehle es hingegen an der Parteistellung, weshalb diese als Zeugen zu befragen seien (BGer 2C_383/2020 vom 08.03.2021, E. 4.6 f.)

Zur Begründung hielt das Bundesgericht fest, dass im Kartellverfahren eine andere Stossrichtung verfolgt werde als in Strafverfahren gegen natürliche Personen. Eine Aussageverweigerung im Kartellverfahren bezwecke nicht den Schutz der Organe, sondern diene zum Schutz der Verteidigungsrechte betreffend die belasteten Unternehmen. Die Organe juristischer Personen können dann die Aussage verweigern, wenn sie noch ihre aktuelle Funktion wahrnehmen und nicht aus dem Unternehmen ausgeschieden sind (BGer 2C_383/2020 vom 08.03.2021, E. 5.2.2).

III. Fazit

Die Gerichte sprechen dem nemo tenetur – Grundsatz keine umfassende Geltung zu. Die restriktive Handhabung führt dazu, dass Unternehmen zwar strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, ihnen aber nicht dieselben Verfahrensrechte wie natürlichen Personen zukommen. Der Umgang der Rechtsprechung mit der Ausgestaltung des vorgenannten Grundsatzes scheint unbefriedigend. Es wird der Anschein erweckt, als werde damit versucht, einen elementaren Verfahrensgrundsatz aus praktischen Gründen zu verwässern.

Dennoch wird der Anwendungsbereich nicht vollständig beschränkt, sondern es werden einige wenige Zugeständnisse gemacht. Die flexible Ausgestaltung dieser Rechte bringt jedoch Rechtsunsicherheit mit sich. Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit sowie Art. 6 EMRK sollten nicht in unterschiedlicher Intensität zum Tragen kommen. Es scheint aus Sicht der Ermittlungsbehörde nachvollziehbar, dass ohne eine Mitwirkungspflicht die Sachverhaltsfeststellung erheblich erschwert wird. Die bekanntlich begrenzten Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden sollten aber nicht die Geltung eines Rechtes mit Verfassungsrang aushebeln.

-MLaw Laura Muheim, Rechtsanwältin
-MLaw Felicitas Ronneberger, juristische Mitarbeiterin

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